Assistierter Suizid
aus Sicht der Patientenanwaltschaft
Spätestens seit dem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts und dem, damals noch ausständigen Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes (VfGH) zur Aufhebung jener Bestimmung des Strafgesetzbuches (StGB), welche jedwede Hilfeleistung zum Selbstmord verbot, stellt sich die Gretchenfrage an die Patientenvertretungen: Wie hältst du‘s mit dem assistierten Suizid?
Die moralischen, religiösen und weltanschaulichen Aspekte sind divergent bis konträr, auch Meinungsumfragen in der österreichischen Bevölkerung zum Thema assistierter Suizid zeigen kein kontinuierlich einheitliches Bild.[1] Der rechtliche Aspekt scheint wiederum durch das Erkenntnis des VfGH vom 11.12.2021 geklärt: Das Verbot jedweder Hilfe zum Suizid im Sinne des § 78 Strafgesetzbuch (StGB) ist verfassungswidrig, da es gegen das Recht auf Selbstbestimmung verstößt. So gilt es nun dieses Erkenntnis im Lichte der Patientinnen- und Patientenrechte zu reflektieren.
Recht auf Selbstbestimmung
Das Recht auf Selbstbestimmung in Hinblick auf medizinische Behandlungen findet sich in Artikel 18 der Österreichischen Patientencharta. Demnach haben Patientinnen und Patienten das Recht, im Vorhinein Willensäußerungen abzugeben, durch die sie für den Fall des Verlustes ihrer Handlungsfähigkeit das Unterbleiben einer Behandlung oder bestimmter Behandlungsmethoden wünschen, damit bei künftigen medizinischen Entscheidungen soweit wie möglich darauf Bedacht genommen werden kann.
Das zitierte Erkenntnis des VfGH lässt dieses Recht auf Selbststimmung – soweit es medizinische Heilbehandlungen betrifft – in einem neuen Licht erscheinen. Suchte man in der österreichischen Rechtsordnung nach der Absicherung des Rechts auf Selbstbestimmung, so führte kein Weg an § 110 des Strafgesetzbuches vorbei, der die „eigenmächtige Heilbehandlung“, also die medizinisch zwar korrekte, aber nicht von der Zustimmung der zu behandelnden Person getragene, Behandlung mit Strafe bedroht. Mit Ausnahme jener Fälle, in denen die Zustimmung der zu behandelnden Person nicht eingeholt werden kann (z. B. wegen Bewusstlosigkeit bei einem Notfall), schützt diese Bestimmung also das Recht jeder und jedes Einzelnen, eine medizinische Behandlung nur dann zu erhalten, wenn – in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts – auch eine entsprechende Zustimmung der betroffenen Person vorliegt. Es handelt sich dabei um ein defensives Patientenrecht, da sein Wesenselement im Recht auf Ablehnung einer (medizinisch notwendigen) Behandlung besteht, selbst wenn dies den Tod zur Folge hat.[2]
Hingegen gibt es keinen Anspruch auf die Durchführung einer nicht indizierten medizinischen Maßnahme. Wenn auch der Begriff der medizinischen Indikation nicht eindeutig definiert ist, ist sie im Wesentlichen die medizinisch-fachlich begründete (wenn auch nicht unreflektierte) Rechtfertigung für diagnostisches und therapeutisches Heilbehandeln.[3] Ein Tun, welches auf das Herbeiführen des Todes zielgerichtet ist, kann schon begrifflich keine Heilbehandlung sein und folglich auch keine medizinische Indikation darstellen.[4] Dies ist freilich abzugrenzen von Behandlungen, die zwar den Eintritt des Todes beschleunigen, gerade diesen Todeseintritt aber nicht zum Ziel haben, sondern viel mehr das Lindern von Leiden, wie dies etwa bei der Verabreichung stärkster Schmerzmittel die Folge sein kann. Wenn auch ein lebensverkürzender Effekt in Kauf genommen wird, liegt hier die Zielsetzung (und damit die Indikation) in der Linderung qualvoller Zustände und nicht in der Lebensverkürzung. So hat auch der Gesetzgeber in § 49a des Ärztegesetzes klargestellt, dass es bei Sterbenden zulässig ist, im Rahmen palliativmedizinischer Indikationen solche Maßnahmen zu setzen, deren Nutzen zur Linderung schwerster Schmerzen und Qualen im Verhältnis zum Risiko einer Beschleunigung des Verlusts vitaler Lebensfunktionen überwiegt.[5]
Patientenverfügung
Auch das Rechtsinstitut der Patientenverfügung ist als defensives Patientenrecht (als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts) ausgestaltet. In einer Patientenverfügung lehnt eine entscheidungsfähige Person eine medizinische Behandlung ab (§ 2 Patientenverfügungsgesetz), kann jedoch eine medizinisch nicht indizierte Behandlung auch nicht einfordern.[6]
Die Grenze ist freilich fließend, denn auch die Ablehnung einer medizinischen Behandlung kann ein aktives Tun des ärztlichen Personals notwendig machen: Nach herrschender Meinung ist eine medizinische Maßnahme auch dann zu beenden, wenn die Zustimmung der zu behandelnden Person nachträglich wegfällt. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn eine Person nach einem Notfall maschinell beatmet wird und nachträglich eine verbindliche Patientenverfügung auftaucht, in der genau diese Maßnahme abgelehnt wird. In diesem Fall müsste die Beatmung, die nun nicht mehr von der Zustimmung der betroffenen Person getragen wird, mangels Einwilligung beendet werden. Dies erfordert unausweichlich ein aktives Tun des Gesundheitspersonals: Die Beatmungsmaschine muss abgeschaltet werden. Die Abgrenzung kann wohl am ehesten so vorgenommen werden, dass es sich beim Abdrehen der Maschine um keine „neue“ medizinische Maßnahme handelt, für die wiederum eine Indikation gegeben sein müsste. Vielmehr wird eine laufende Maßnahme beendet. Mag diese zwar weiterhin indiziert sein, so wehrt die betroffene Person Kraft ihres Selbstbestimmungsrechtes diese Maßnahme jetzt ab.
Patientencharta
So lässt sich sagen, dass das in der Patientencharta festgehaltene Recht auf Selbstbestimmung als defensives Patientenrecht zu verstehen ist, dem nicht unterstellt werden kann, damit auch medizinisch nicht indizierte Maßnahmen, und somit auch nicht die Unterstützung beim Suizid, legitimieren oder aktiv einfordern zu können.
Anders verhält es sich, wenn das Recht auf Selbstbestimmung über medizinische Behandlungen hinausgehend gesehen wird. Wie der VfGH ausführt gehört zur freien Selbstbestimmung zunächst die Entscheidung des Einzelnen, wie er sein Leben gestalten und führen will. Zur freien Selbstbestimmung gehört aber auch die Entscheidung, ob und aus welchen Gründen ein Einzelner sein Leben in Würde beenden will.[7]
Eben dieses Recht findet sich in doppelter Ausprägung in der Patientencharta: Denn zunächst sind die Persönlichkeitsrechte der Patienten und Patientinnen besonders zu schützen und ihre Menschenwürde unter allen Umständen zu achten und zu wahren (Artikel 2). Absatz 1 des Artikel 15 fordert darüber hinaus, dass in stationären Einrichtungen ein Sterben in Würde zu ermöglichen ist.
Kein Mensch ist eine Insel
Unzweifelhaft ist die Entscheidung über das Ende des eigenen Lebens in Würde wohl die denkbar persönlichste Entscheidung überhaupt. Wie weit es dabei überhaupt zulässig erscheinen mag, äußere Regulative anzulegen, soll durchaus kritisch hinterfragt werden. Andererseits darf auch nicht übersehen werden, dass wohl jede zu treffende Entscheidung von äußeren Umständen beeinflusst wird und eine getroffene Entscheidung wiederum Auswirkungen auf das Umfeld hat, denn: „Kein Mensch ist eine Insel“.
Mag die Unterstützung beim Suizid eines todkranken und leidenden Menschen an dessen Lebensende als ultima ratio ein nachvollziehbarer Entschluss sein, kann genau diese Entscheidungsmöglichkeit einen anderen Menschen in einen Interessenskonflikt zwischen einer selbstbestimmten Entscheidung und einer, letztlich subjektiv wahrgenommen, Erwartungshaltung des Umfeldes bringen.
Rund 23% jener Personen, die im Jahr 2020 eine verbindliche Patientenverfügung bei der NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft errichteten, gaben als Hauptmotiv für die Errichtung ihrer Patientenverfügung an, ihren Angehörigen nicht zur Last fallen zu wollen.[8]
Der Gedanke, Menschen könnten unter Druck geraten, einen assistierten Suizid in Kauf zu nehmen, um keine Belastung für andere zu sein, lässt sich nicht ohne Weiteres beiseiteschieben. Dabei ist es gar nicht erforderlich, dass dieser Druck tatsächlich vorhanden ist. Es genügt, dass im assistierten Suizid eine Alternative besteht und bei der betroffenen Person diese Alternative gegenüber allen anderen Möglichkeiten abgewogen werden muss. Diese Abwägung läuft Gefahr, in ein sich Rechtfertigen-Müssen überzugleiten. Diese Gefahr scheint umso größer, desto vulnerabler die betroffene Personengruppe ist. Einer breiteren Öffnung des rechtlichen Rahmens zu Gunsten des assistierten Suizids muss daher zum kollektiven Schutz kranker, behinderter und pflegebedürftiger Menschen ablehnend gegenübergestanden werden.
Assistierter Suizid muss ultima ratio sein
Nun sind also eindeutige gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Zulässigkeit assistierter Suizide zu definieren. Es muss klar sein, dass der assistierte Suizid als ultima ratio in aussichtslosen Situationen, welche für die Betroffenen ein schmerz und-/oder qualvolles Lebensende mit sich bringen, vorbehalten bleibt.
Unzweifelhaft kann ein solcher Entschluss ausschließlich von einer uneingeschränkt entscheidungsfähigen Person getroffen werden und muss dieser auch jederzeit revidiert werden können, wenn die Person zu erkennen gibt, dass sie diese Entscheidung nicht länger aufrecht hält.[9]
Zu fordern ist jedenfalls, dass primär bestehende Alternativen, beginnend mit Patientenverfügung, Vorsorgedialog und alle Maßnahmen, die sich unter dem Titel „palliative Betreuung“ zusammenfassen lassen, gefördert und weiterentwickelt werden. Dabei darf es nicht auf die finanzielle bzw. wirtschaftliche Lage der betroffenen Person ankommen, ob diese Angebote angenommen werden können. Dies setzt selbstredend voraus, dass ein entsprechendes Angebot überhaupt vorhanden ist. Es schließt sich hierbei der Kreis: Ein fehlendes oder nicht leistbares Angebot – beispielsweise an Hospizplätzen – wird unweigerlich einen Einfluss auf die Entscheidung betroffener Personen über einen assistierten Suizid haben.
Nicht übersehen werden darf weiters auch, dass das Gesundheitspersonal von der Entscheidung eines Menschen, Hilfe bei der Selbsttötung in Anspruch zu nehmen, tangiert wird. Grundsätzlich ist eine Einbindung des Gesundheitspersonals unumgänglich: die Frage nach der (medizinischen) Aussichtslosigkeit einer Erkrankung, die Feststellung über das Vorliegen der Entscheidungsfähigkeit, psychologische und pflegerische Betreuung, sowie in letzter Konsequenz die Frage nach Art der Beendigung des Lebens ist ohne Fachpersonal nicht beantwortbar. Aus dem oben Gesagten zum Selbstbestimmungsrecht (aus Sicht der Patientenrechte) scheint eine Verpflichtung des Gesundheitspersonals oder von Institutionen (z. B. Krankenanstalten), einem Menschen beim Suizid zu unterstützen, nicht ableitbar. Der Wegfall eines Verbots bedeutet nicht gleichzeitig einen durchsetzbaren Rechtsanspruch auf das jetzt Erlaubte. Eine „Gewissensklausel“, die klarstellt, dass das Gesundheitspersonal und auch die Institutionen des Gesundheitswesens keine diesbezügliche Verpflichtung trifft, ist hier auch aus Sicht der Patientinnen und Patienten unter Hinweis auf bereits existierende, ähnliche Regelungen beim Schwangerschaftsabbruch eine vertretbare Position.[10]
Ausbau der Palliativ- und Hospizbetreuung
Zusammengefasst stellt sich nun an den Gesetzgeber die große Herausforderung, das Grundrecht des Einzelnen auf Selbstbestimmung zu wahren und dabei möglichst alles zu unternehmen, um Missbrauch zu verhindern und ebenso eine ungewollte Tendenz in Richtung aktiver Lebensbeendigung nicht zu begünstigen. Hier sind klare rechtliche Rahmenbedingungen ebenso unverzichtbar, wie ein quantitativ, qualitativ und flächendeckendes Vorhandensein aller geeigneten Alternativen, insbesondere der Palliativ- und Hospizbetreuung.
Quellenverzeichnis
[1] INTEGRAL, Studie 6830/April 2021, Befragung zum Thema Sterbehilfe vs. FOCUS Studie Sterbehilfe, 2021
[2] EBRV 30 BlgNR XIII. GP, S 241 – eigenmächtige Heilbehandlung
[3] Zum Begriff der Indikation: Hunstorfer, Wallner in Onkologe 2016, S 816 ff, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2016
[4] Zur Abgrenzung eigenmächtige Heilbehandlung: Pitzl/Huber in Recht der Medizin,4/2000, S 105 ff
[5] § 49a wurde durch BGBl. I Nr. 20/2019 in das Ärztegesetz 1998 eingefügt.
[6] Erläuterungen zu § 2 PatVG, 1299 der Beilagen XXII. GP.
[7] Erktennis des VfGH vom 11.12.2020,G 139/2019-71, RZ 74
[8] Tätigkeitsbericht NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft 2020
[9] vgl. Widerruf der Patientenverfügung (§ 10 Patientenverfügungsgesetz),
[10] Vgl. § 97 Abs. 2 Strafgesetzbuch
Über den/die Autor/In
Mag. Michael Prunbauer hat das Studium der Rechtswissenschaften mit Schwerpunktausbildung Medizinrecht an der Universität in Wien absolviert. Seine juristische Praxis konnte er sich im Bezirksgericht St. Pölten bei der Staatsanwaltschaft St. Pölten und in der Bezirkshauptmannschaft Zwettl (NÖ) erwerben.
Seit 2004 ist er Mitarbeiter der NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft.
Nebenbei arbeitet er als ehrenamtlicher Rettungssanitäter und ist seit 2011 Bezirksstellenleiter beim Roten Kreuz in Herzogenburg.
2011 hat er die Bereichsleitung der Fachbereiche Beschwerdemanagement und des NÖ Patienten- Entschädigungsfonds übernommen. Er ist Mitglied der Ethikkommission, der Schlichtungsstelle der Zahnärztekammer für Niederösterreich sowie kooptiertes Mitglied im Vorstand der Österreichischen Palliativgesellschaft.
Seine Arbeitsschwerpunkte sind:
Beratung in rechtlichen Anfragen, Vergleichsverhandlungen mit Haftpflichtversicherungen, Beratung zu und Errichtung von Patientenverfügungen sowie Beratung betreffend den Rettungsdienst, Vertretung der PatientInnen vor der Schlichtungsstelle der Ärztekammer für Niederösterreich, Vortragstätigkeiten.
2021 wurde Mag. Michael Prunbauer zum Leiter-Stellvertreter der NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft bestellt.