Ein palliatives Tagebuch

Fünf Tagebucheinträge einer Palliativmedizinerin

Genießet das Leben beständig, denn man ist länger tot als lebendig!

Tag 1 – Erwachen

Cicely Saunders (1918-2005), die englische Begründerin der Palliative Care und als Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin die Multiprofessionalität in Person, antwortete auf die Frage, was Palliative Care für sie bedeuten wurde, mit: „to give space“. Raum geben, damit andere Dinge außer einer Erkrankung Platz haben.

Im Jahr 2009 begann ich meine Ausbildung zur Fachärztin für Innere Medizin und arbeite seit dem Jahr 2010 am Allgemeinen Krankenhaus (AKH) Wien, wo ich seit dem Jahr 2018 als stellvertretende Leiterin der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin tätig bin. Unsere Station hat 12 Betten und wir bieten als Team einen Konsiliardienst für das gesamte AKH an. Der Dalai Lama sagt: „Meine Religion ist Freundlichkeit.“ Doch wie lange musste er dafür meditieren?

Manchmal beginnt der Tag auf der Palliativstation so, dass es Bettenanfragen hagelt, dass man in der Dauerschleife am Telefon hängt, Visite geht, Konsile macht tut, was anfällt und was logischerweise nicht planbar ist. Und nebenbei sehr häufig erklären muss, was eine palliative Betreuung eigentlich bedeutet. Manche Anrufe sind skurril, wie „Ich möchte mich gerne einschläfern lassen“, manche Anfragen sind ernst und traurig, da es zu wenige Betten für zu viel Bedarf gibt und wir nicht selten auf unsere Warteliste verweisen müssen.

Die meisten Menschen auf der Palliativstation leben (ja – sie leben mit ihren Erkrankungen und leiden nicht ausschließlich daran) mit unterschiedlichen onkologischen Erkrankungen und werden auf der Palliativstation aufgenommen, um belastende Symptome wie beispielsweise Atemnot, Appetitlosigkeit, Angst, Depression, Übelkeit, Muskelschwäche, Schlaflosigkeit, oder Schmerz zu verbessern. Ziel wäre die Entlassung nach Hause nach einem Aufenthalt von etwa drei Wochen. Selbstverständlich ist auch die Sterbebegleitung Teil einer palliativen Betreuung, doch bei weitem nicht ausschließlich. Die Menschen sind also dann richtig, wenn „viele Sorgen bei der Türe hereinwollen“. Die meisten Anfragen sind jedoch leider sehr ungezielt, man kann es ja einmal probieren. Schließlich würden auf Palliativstationen „viele Menschen“ arbeiten und es gäbe „wenig Patient*innen“. Es sei auch schön und gemütlich und man werde dort „aufgepeppelt“. Neben dem diplomierten Pflegepersonal und dem ärztlichen Personal betreut ein Team aus unterschiedlichen Berufsgruppen wie Diätologie, Ergotherapie, Physiotherapie, Psychologie/Psychotherapie, Seelsorge, Sozialarbeit und ehrenamtlichen Mitarbeitenden die Patient*innen und deren Umfeld. Der Begriff Palliative Care bedeutet mehr als reine Medizin, nämlich, sich umfassend zu kümmern. Durch die multiprofessionelle Zusammenarbeit verteilen sich Aufgaben. Von etwa 80.000-90.000 Menschen, die pro Jahr in Österreich versterben benötigen 10-20 % eine spezialisierte Palliativversorgung.

Jene spezialisierte Versorgung widmet sich Menschen in komplexen Situationen, sei es auf einer körperlichen, auf einer psychosozialen oder einer spirituellen Ebene. Umso wichtiger ist es, dass Basiskenntnisse in Palliative Care/Palliativmedizin in allen medizinischen Bereichen vorhanden sind, da hier der Bedarf wesentlich größer ist.

Sehr häufig erreicht man auf der Palliativstation, dass die Patient*innen zufrieden sind. Doch sind es auch die Angehörigen und Freund*innen der Patient*innen? Mit offenen Armen auf eine Palliativstation zu kommen gelingt den wenigsten. Meist gibt es Vorbehalte. Bekommt man hier überhaupt Medizin? Wird auch Blut abgenommen? Oder ist das eine Art esoterischer Tempel, wo ein „Sterbeprogramm“ gestartet wird und man sich einzureihen hat in den Ruch des Endes, der Ausweglosigkeit, des Rückzugs? Ich sage mir als Ärztin: „Vergiss nie, Du hast viele Patient*innen, aber für Dein Gegenüber bist Du im Moment die einzige Ärztin. Baue Vertrauen auf.“ Ich denke mir als Mensch: „Warum gibt es trotz aller Entwicklungen weiterhin so viel Widerstand diesem medizinischen Bereich gegenüber?“

Als Ärztin ist mir bewusst, heilen ist schön. Helfen ist aber auch schön, selbst wenn es keine Heilung mehr gibt. Angesichts unrealistischer Vorstellungen nicht ad hoc zu handeln, sondern zu diskutieren, ist ebenso eine Handlung, Gespräche zu führen ist ebenfalls eine Therapie. Wir führen etwa 400.000 Gespräche im Rahmen unserer professionellen Tätigkeit. Daher sollten wir gut kommunizieren. Es hat Mehrwert. Außerdem. Irgendjemand muss Palliative Care ja machen. Und dazu braucht es Stärke, Mut und Kraft. Man muss ziemlich fit sein, um Palliativmedizin/Palliative Care so zu betreiben, dass sie authentisch und stützend ist. Verletzte Helfer*innen halten nicht lange durch.

Tag 2 – Therapiezieländerung

Der deutsche Literat Hermann Kesten formulierte: „Die Fortschritte in der Medizin sind ungeheuerlich. Man ist sich seines Todes nicht mehr sicher!“. Ein großartiger Satz. Der Tod ist scheinbar nicht vorgesehen und trifft uns doch zu 100 Prozent. In der Medizin sollte daher gelten: Therapieziel vor Therapieplan. Klingt einfach, entspricht aber häufig nicht der Realität im turbulenten medizinischen Alltag. Ein „Schau ma mal“ hat sich in unseren Sprachgebrauch eingeschlichen. Antizipatorisches Handeln vertieft sich durch die Arbeit im Palliativbereich, womit gemeint ist, dass man versucht, vorausschauend zu handeln und den Patient*innen Möglichkeiten in die Hand zu geben, dass diese und ihr Umfeld in Krisensituationen wissen, was sie tun können. Ein sogenanntes „Sicherheitsversprechen“ ist unglaublich entlastend. Aufzuklären über die Möglichkeit der Selbstbestimmung, über Patient*innenverfügung, Vorsorgevollmacht und Vorsorgedialog, sogenanntes Advance Care Planning ist Teil der palliativen und hospizlichen Arbeit. Menschen haben Werte und Werte abzufragen ist etwas sehr Intimes, das zugleich Beziehung ermöglicht. Hier findet sich eine Antwort auf die Frage: Wie hält man durch? Wie hält man das Sterben von Menschen aus? Erstens, im Team. Zweitens, mit Wissen. Drittens, mit Herz. Das ist kein Ranking. Man kann an eine Situation denken, wo jemand richtig gut mit einem selbst kommuniziert hat. Und was auch immer einem in den Sinn kommt, bemerkt man, die Ansprüche sind gar nicht so hoch. Patient*innen wollen von Menschen behandelt werden.

Warum macht man die meisten Menschen und ihr Umfeld dennoch glücklicher mit einer sogenannten „aggressiven“ Therapie, die bei weit fortgeschrittener Erkrankung meist nicht zu einer Besserung führt. Damit man dann sagen kann: „Wir haben alles versucht?“ Weil es psychologisch gut tut, etwas gegen die Erkrankung zu tun und nicht nur gegen die Symptome?

Es gäbe wohl viele Argumente pro und contra und daraus besteht letzten Endes das gesamte Leben, aus dem Abwägen von Möglichkeiten.

Tag 3 – Warum ich meine Arbeit mag

Meine tägliche Arbeit gefällt mir, sie ist vielseitig, abwechslungsreich und in keiner Weise oberflächlich. Menschen in schwierigen Situationen zu betreuen bedeutet im Palliativbereich meist, einen Einblick in ein gesamtes Leben zu bekommen. Neben der vordergründigen Problematik erkennt man in Krisen, was Menschen bewegt, wie sie Konflikte lösen und wie sie mit anderen umgehen, wenn es ihnen selbst schlecht geht. Auf der behandelnden Seite zu stehen, bedeutet als Palliativteam auch, schweigend zu beobachten, wahrzunehmen und ein Feingefühl dafür zu entwickeln, wann welche Handlung passend ist. In der letzten Vorstandssitzung der Österreichischen Palliativgesellschaft erzählte eine ärztliche Kollegin von einer anderen Kollegin, die gesagt habe: „Ich würde am liebsten alle Menschen palliativ betreuen, da das die beste Betreuung ist!“

Eine Möglichkeit herauszufinden, wann der richtige Zeitpunkt für den Erstkontakt mit einem Palliativteam ist, stellen entweder die Diagnose einer unheilbaren Erkrankung oder die Antwort „Nein“ auf die Surprise Question „Wären Sie überrascht, wenn die Patientin/der Patient innerhalb des nächsten Jahres verstirbt?“ und die Antwort „Ja“ auf die Double Surprise Question „Wären Sie überrascht, wenn die Patientin/der Patient nach einem Jahr noch lebt?“dar.

Ich mag meine Arbeit, da sie mich fachlich wie menschlich herausfordert.

Tag 4 – Keine Antwort wissen, nicht schlauer sein als die anderen

Der Philosoph Pythagoras sagte, man solle schweigen oder Dinge sagen, die noch besser sind als das Schweigen. Geht es Menschen schlecht, wenn man die Prognose oder den gewünschten Sterbeort anspricht? Nein, ganz im Gegenteil, häufig verstärkt sich dadurch das Vertrauensverhältnis. Ich habe gelernt, in heiklen Gesprächssituationen gelegentlich innerlich bis zehn zu zählen, anstatt schnelle und unbeholfene Floskeln auszusprechen. Auch im Umgang mit Kolleg*innen, die Vorbehalte einer palliativen Betreuung gegenüber haben, übe ich mich in Geduld und versuche, eine frühere Integration von Palliativmedizin/Palliative Care zu erreichen. Leider werden wir als Palliativteam häufig zu spät einbezogen. Manchmal muss man auch provokant sagen: „Wir sind nicht der Sterbe-TÜV!“ Die Zusammenarbeit mit Vertrauenspersonen und (teils langjährigen) Behandler*innen der Patient*innen ist wesentlich, wenn es um herausfordernde Entscheidungen geht.

Wir können häufig nur beratend zur Seite stehen und gemeinsam mit dem lange betreuenden Team und den Patient*innen selbst einen Weg finden. Die Intelligenz einer Gruppe ist stets höher als die einer einzelnen Person und auch die Patient*innen fühlen sich dann am besten betreut, wenn vertraute Personen weiterhin präsent sind. Jede Disziplin soll ihr Wissen einbringen und Palliativmedizin/Palliative Care ist weder therapiefeindlich noch medizinfeindlich, sie ist in erster Linie hochgradig patient*innen-orientiert und lebt von Individualisierungsvermögen. Palliativbetten sind wie Perlen. Sie sind kostbar und sollten auch so betrachtet werden. Die Wahrnehmung, was Palliative Care/Palliativmedizin bieten kann und die Kenntnis der abgestuften Hospiz- und Palliativbetreuung muss kontinuierlich  gestärkt werden.

Tag 5 – Wochenendstimmung

Das Wochenende kommt! Ich freue mich! Ich höre sehr gerne den Podcast erzaehlmirvon.wien. Dort kam der schöne Satz vor: „Genießet das Leben beständig, denn man ist länger tot als lebendig!“ Darum bemühe ich mich. Sind wir uns unserer eigenen Vergänglichkeit bewusst? Mal ja, mal nein, so soll es sein. Schönes Wochenende, liebes Tagebuch!

Literatur

  1. Ermers DJ, Kuip EJ, Veldhoven C, et al (2021) Timely identification of patients in need of palliative care using the Double Surprise Question: A prospective study on outpatients with cancer. Palliat Med 269216320986720.
    https://doi.org/10.1177/0269216320986720
  2. Masel EK, Kitta A, Huber P, et al (2016) What Makes a Good Palliative Care Physician? AQualitative Study about the Patient’s Expectations and Needs when Being Admitted to a Palliative Care Unit. PLoS ONE 11:e0158830.
    https://doi.org/10.1371/journal.pone.0158830
  3. Haun MW, Estel S, Rücker G, et al (2017) Early palliative care for adults with advanced cancer. Cochrane Database Syst Rev 6:CD011129.
    https://doi.org/10.1002/14651858.CD011129.pub2
  4. Podcast www.erzaehlmirvon.wien

Quellenverzeichnis

Assoc. Prof.in PDin Dr.in med. univ. et scient. med. Eva Katharina Masel, MSc ist Fachärztin für Innere Medizin mit Spezialisierung in Palliativmedizin. Sie ist stationsführende Oberärztin sowie interimistische Leiterin der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin am Allgemeinen Krankenhaus Wien der Medizinischen Universität Wien.

Sie absolvierte einen Masterlehrgang in Palliative Care, ein PhD-Studium in Mental Health and Behavioural Medicine sowie eine Habilitation in Palliativmedizin. Ihre Schwerpunkte liegen in der palliativen Versorgung von Patientinnen und Patient*innen und Familien mit schweren Erkrankungen, im Symptommanagement, in der Behandlung von psychiatrischen Komorbiditäten und psychosozialen Aspekten, im Bereich der Medical Humanities sowie in der Forschung im Bereich der Palliative Care.

Sie veröffentlichte zahlreiche Publikationen und ist Vorstandsmitglied der österreichischen Palliativgesellschaft sowie Mitglied nationaler und internationaler Fachgesellschaften.