Kühler Kopf in hitzigen Situationen

Warum Beschwerdeführer niemals Sie meinen können und wie Sie emotionale Gespräche elegant wieder auf eine sachliche Ebene führen.

Nur, damit wir gleich zu Beginn eines klarstellen: SIE sind schuld!

Sie sind schuld, wenn die Wartezeiten in der Ambulanz furchtbar lange sind; Sie sind schuld, wenn das Medikament Nebenwirkungen hat oder eine Behandlung nicht anschlägt; Sie sind schuld, wenn sich der Zustand der 97-jährigen Großmutter im Pflegeheim verschlechtert, die nur deshalb eingezogen ist, weil sie zuhause nicht mehr versorgbar war, wenn das Essen nicht schmeckt, der Transportdienst lange braucht oder der Selbstbehalt pro Krankenhaustag gestiegen ist. Sie sind schuld an, wenn es keine Parkplätze gibt, der Taxifahrer unfreundlich war und natürlich auch für den Streit mit der Nachbarin gestern Abend.

Zumindest hat man als Mitarbeitender einer Gesundheitseinrichtung oft den Eindruck, aus Sicht der anderen an allem schuld zu sein. Manche Kolleg*innen schütteln nur noch resignierend den Kopf, andere nehmen sich die Vorwürfe zu Herz, wieder andere werden selbst ärgerlich ob dieser Anschuldigungen.

Wenn sich dann Patient*innen oder Angehörige über Sie beschweren, dann sind Sie – egal, wie der Sachverhalt war – in leider immer noch viel zu viel Institutionen aus Sicht der Leitenden … richtig: auch wieder schuld.

Zugegeben, die Aussagen eben waren ein wenig überspitzt.

Fakt ist jedoch, dass man oft mit Vorwürfen konfrontiert wird, hoch-emotional vorgetragen, bei denen man sehr schnell erkennt, dass sie haltlos sind.

Die Frage, die sich dabei stellt, ist, wie man selbst ruhig bleibt und solche Gespräche schnell und entspannt auf eine sachliche Ebene führt und dort Lösungen findet oder Erklärungen geben kann, die der andere auch nimmt.

Die Inhaltsfalle

Zunächst eine Beobachtung, die nur wenige Menschen gleich annehmen können: Die eigenen Emotionen haben weniger mit dem zu tun, was andere machen oder sagen, sondern viel mehr mit einem selbst. Emotionale Reaktionen werden durch unser „Kopfkino“, durch die eigenen Gedanken und Vorstellungen, getriggert.

Ein Beispiel dazu:
Wenn die Großmutter verstirbt, ist das eine Tatsache. Diese Tatsache kann aber ganz unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Beispielsweise Trauer: Man denkt vielleicht an die schönen Gespräche am Küchentisch, sieht in Gedanken den Küchentisch ohne Oma, spürt die Leere, all die guten Dinge, die nicht mehr kommen und diese Gedanken verursachen Trauer. Es kann aber auch friedliches Gefühl sein: Oma hat so lange gelitten, jetzt sieht man in Gedanken, wie das schmerzverzerrte Gesicht sich wieder entspannt, vielleicht sogar von einem besseren Platz zu einem herablächelt oder man fühlt Erleichterung, weil man mit der Pflege zuhause selbst bereits überfordert war. Oder man hatte keinen guten Kontakt zu Oma, ist aber dennoch der einzige Erbe ihres großen Vermögens. Dann hat man womöglich Vorstellungen von einem Leben in Luxus und Liederlichkeit und Oma kommt in den eigenen Gedanken kaum vor. Dann wird die Emotion mit Sicherheit wieder eine ganz andere sein.

Somit: Es sind unsere Gedanken, welche unsere Emotionen ansteuern, nicht so sehr das tatsächlich Erlebte.

Nun machen wir den Bogen zu Patient*innen oder Angehörigen:
Ein Patient sitzt seit einer dreiviertel Stunde in der Ambulanz und wartet, dass er aufgerufen wird. Er beobachtet, dass andere Patienten nach ihm gekommen sind und vor ihm aufgerufen wurde. Diese beiden Aspekte sind die Fakten. Was der Patient nicht weiß, sind die Hintergründe, also ergänzende Fakten, bspw. dass ein Wartebereich für unterschiedliche Untersuchungen mit unterschiedlichen Wartezeiten genutzt wird oder dass die Ärztin, der Arzt, der für die spezielle Untersuchung zuständig ist, auf der Station oder im OP aufgehalten wurde.

Was geht im Kopf des Patienten vor? Möglicherweise nichts Besonderes. Dann ist es ein friedlicher Patient, der sein Kopfkino gerade nutzt, um sich Gedanken über das nächste Wochenende zu machen. Doch um diese Patientinnen oder Patienten geht es in dem Artikel nicht. Sein wir einfach froh, dass wir diese auch haben, vermutlich sogar mehr als von den weniger entspannten.

Bei den nicht so friedlichen Patienten beginnt an dieser Stelle eine Gedankenspirale in dieser oder ähnlicher Form: „Das ist ja typisch. Mich lässt man warten, die anderen kommen früher dran. Das ist nur, weil ich hier niemanden kenne. Wahrscheinlich sind das Privatpatienten, die vorher extra gezahlt haben. Die Zweiklassenmedizin ist hier schon angekommen. Das kann doch nicht sein, dass ich jeden Monat so hohe Krankenkassenbeiträge bezahle und dann als Mensch zweiter Klasse behandelt werde. Und da – jetzt kommt eine Schwester lächelnd aus dem Untersuchungszimmer. Wahrscheinlich haben die da drinnen eine lustige Zeit, trinken Kaffee und lassen es sich gut gehen, während man als normaler Patient hier heraußen versauert….“. Während dieser Gedanken wird der Patient immer ärgerlicher. Nicht wegen der Fakten, sondern wegen seiner Vorstellungen. Seine Emotion hat mit seinem Kopfkino, nicht mit der Realität zu tun. Mit jedem Gedankenumlauf wird die Emotion immer größer. Wie eine emotionale Mistkugel, die immer größer wird, während er sie „vor sich herrollt“.

Wenn nun dieser Patient zu einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter geht, wird dieser vermutlich nicht mit den Fakten konfrontiert, sondern mit der „emotionalen Mistkugel“, mit Vorwürfen, die dem Mitarbeitenden völlig überraschen, verärgern oder verunsichern und zu Abwehr führen, weil diese Vorwürfe so ja wohl nicht stimmen. Der Mitarbeitende tappt in die Inhaltsfalle, reagiert so, als ob die ersten Vorwürfe die tatsächlichen Fakten wären, gegen die man argumentieren muss. Doch es sind nur die Ergebnisse des Kopfkinos des Patienten. Er meint in Wahrheit nicht Sie.

Diese Situation birgt viel Potenzial für Eskalation.

Manchmal kann man diesem Gedankenkarussell vorbeugen, indem man Informationen gibt („Es dauert länger, weil…“). Das fällt unter die Strategie „eine Vorankündigung spart 100 Rechtfertigungen“.

Doch was tun Sie, wenn diese Vorabinformation nicht erfolgt ist und der emotionalisierte Patient vor Ihnen steht?

Aus der Schusslinie gehen

Wenn Sie mit emotionalen „Mistkugeln“ konfrontiert sind, kann Ihnen die folgende Kurzanleitung helfen, diesen „auszuweichen“ und ruhig zu bleiben:

  1. Atmen
  2. Nicken
  3. Klug dreinschauen
  4. Aus der Schusslinie gehen
  5. Optional: Eine Zeitschinderfrage stellen

 

Im Detail:
Atmen, nicken, klug dreinschauen

Als erstes ganz bewusst einatmen und auf Ihre Atmung achten. So schaffen Sie es leichter, bei sich zu bleiben und Ihre eigenen Emotionen für den ersten Moment ruhig zu halten. Egal, welcher Vorwurf kommt: Einatmen. Das zeigt auch Souveränität. Diese unterstreichen Sie mit den Punkten 2 und 3:

Nicken und klug dreinschauen. Nicken suggeriert: Ich verstehe, was Sie sagen, ich habe die Situation unter Kontrolle. Und achten Sie dabei auf Ihr Gesicht, damit es „klug“ dreinschaut, also interessiert, offen, zuhörend. Vermeiden Sie, gleich mal die Arme zu verschränken, einen bösen Blick aufzusetzen und leicht den Kopf zu schütteln. Das signalisiert dem anderen, Sie sind nicht seiner Meinung und er wird mit noch viel mehr Vehemenz versuchen, seinen Standpunkt zu erklären.

Aus der Schusslinie gehen

Gleichzeitig gehen Sie aus der Schusslinie, vermeiden eine frontale Position direkt gegenüber: Emotionalisierte Menschen stellen sich meistens direkt vor einen hin, knapper als angenehm ist und „schießen“ oft auch noch mit den Fingern, also deuten auf Sie. Achten Sie auf einen offenen Winkel und während Sie atmen, nicken, klug dreinschauen sehen Sie in Gedanken, wie der andere seine „Mistkugel“ an Ihnen vorbeischießt. Die offene Haltung erleichtert es, die Emotion vorbei zu lassen.

„Zeitschinderfrage“

Wenn Sie, nachdem der erste emotionale Schwung vorbei ist, eine gute Antwort haben, geben Sie die Antwort (siehe nächster Punkt). Wenn Sie in dem Moment so überrascht sind, dass Ihnen gar nichts einfällt, stellen Sie eine „Zeitschinderfrage“. Durch Fragen kontrollieren Sie den Gesprächsverlauf und Sie gewinnen während der Antwort vielleicht Informationen, doch jedenfalls gewinnen Sie ein paar Momente Zeit um zu überlegen, wie Sie am besten reagieren.

Hilfreiche Fragen, die bei nahezu jedem Vorwurf passen, sind: „Helfen Sie mir mal kurz: Worum genau geht es jetzt gerade?“ oder „Wie meinen Sie das jetzt?“

Wenn man dem ersten Schock nicht erliegt, sondern in der Gesprächskontrolle bleibt, kann man das Gespräch dann auch aus der Emotion auf eine sachliche Ebene bringen. Nur dort finden Sie Lösungen, selten in der Emotion.

Gespräch deeskalieren

Wenn Sie Beschwerdeprofis bei einem Gespräch beobachten werden Sie erkennen, dass es immer den gleichen vier Phasen folgt. Vermutlich werden Sie es in Gesprächen, in denen es Ihnen gut gelingt, die Emotion rauszubringen, intuitiv sehr ähnlich machen.

Die drei Phasen sind

  1. „Cool down“ – Emotion auslaufen lassen
  2. Gesprächsübernahme
  3. Lösungsfindung bzw. Erklärung

Nächster Schritt Im Detail

1. „Cool down“ – Emotion auslaufen lassen

Auskübeln lassen

Zuerst muss der Beschwerdeführer seinen Emotionen Luft machen, seine Mistkugel – wie einen Kübel voll Schmutzwasser – ausleeren. Erst danach ist er für ein lösungsorientiertes Gespräch zu haben. Sie sollten ruhig bleiben und dem anderen Raum geben: Atmen – Nicken – klug dreinschauen und vor allem aus der Schusslinie gehen.

Hören Sie zu, fassen Sie ggf. zusammen („Habe ich Sie richtig verstanden:…“)

Verständnis für Emotion und Werte zeigen

Jeder Beschwerdeführer möchte Verständnis für seine Emotionen. Sie sollen verstehen, WARUM sich der andere jetzt ärgert. Erst, wenn er dieses Ziel erreicht hat, wird er auf eine Lösung einlenken. Wenn Sie ihm zu verstehen geben, dass er unrecht hat, wird er mit noch mehr Emotion versuchen, Sie von seiner Sicht zu überzeugen.

Schwierig ist, Verständnis zu zeigen, wenn Sie sicher wissen, dass dieser Vorwurf so nicht stimmen kann und man sich auch von der Aussage distanziert. Hilfreiche Formulierungen, um Verständnis zu zeigen OHNE Recht zu geben sind „Eindruck“ oder

„Gefühl“: „Ich kann schon verstehen, dass man sich ärgert, wenn man den Eindruck hat (das Gefühl hat), dass man absichtlich lange warten gelassen wird…das wäre ja wirklich völlig inakzeptabel … da würde ich mich auch ärgern …“

Wenn der andere merkt, Sie verstehen, warum er emotionalisiert ist, werden Sie schnell beobachten, dass er ruhiger wird.

2. Gesprächsübernahme

Gemeinsame Werte aufzeigen und nachfragen oder (wenn das Anliegen sehr klar ist) gleich zu Punkt 3 übergehen:

Gemeinsame Werte

„Natürlich ist es uns auch sehr wichtig, dass unsere Bewohnerinnen und Bewohner richtig versorgt werden / dass alle Patientinnen und Patienten gleichermaßen und korrekt behandelt werden / ….“

Optional nachfragen

„Darum, Frau XX, erzählen Sie mal: Was genau ist passiert, dass Sie den Eindruck haben, dass wir uns nicht optimal um Ihre Angehörige gekümmert haben?“

3. Lösungsfindung bzw. Erklärung

Sobald Sie verstanden haben, was tatsächlich hinter der „emotionalen Mistkugel“ steht und sich der andere auch in seiner Emotion verstanden fühlt, können Sie die Situation aufklären oder eine Lösung anbieten:

„Ich verstehe. Sie haben Ihre Mutter im Bett und im Nachthemd vorgefunden, während alle anderen Bewohnerinnen des Zimmers heraußen waren. Ich kann natürlich verstehen, dass man sich da seine Gedanken macht. Nun, heute war es so, dass Ihre Mutter …. und deshalb haben wir … Doch ich kann verstehen, dass man sich da seine Gedanken macht. Gut, dass Sie damit gleich zu mir gekommen sind.“

„Ich verstehe: Andere Patienten sind nach Ihnen gekommen und vor Ihnen untersucht worden. Ja, das macht wirklich einen eigenartigen Eindruck. Nun, es ist so, dass in diesem Wartebereich auf unterschiedliche Untersuchungen gewartet wird …“

„Ich kann nachvollziehen, dass Sie das besprechen wollen, doch kann Ihnen diese Auskunft nur Kollegin Y / die diensthabende Ärztin / Fr. Z in der Verwaltung /… geben.

4. Nächster Schritt

Die Energie des Beschwerdeführers muss in eine Richtung kanalisiert werden. Er braucht einen nächsten Schritt: Was machen Sie / soll er jetzt machen / können Sie ihm zeigen / zu wem können Sie ihn begleiten / …

Zu den drei Beispielen vom vorigen Punkt

„…daher würde ich vorschlagen, dass wir gleich gemeinsam zu Ihrer Mutter schauen und

überlegen, ob das für sie heute so passt…“

„…und deshalb darf ich Sie bitten, wieder Platz zu nehmen. Wir tun alles damit es so schnell als möglich geht, dennoch wollen wir natürlich jeden Patienten sehr genau untersuchen, ich denke, das werden Sie dann auch wollen, dass man sich ausreichend Zeit nimmt und, wie gesagt, in 4 Patienten sind Sie dran…“

„…wenn Sie wollen, kann ich gleich bei der Kollegin anrufen und sagen, dass Sie vorbei

kommen / kann ich sie gleich zur Kollegin begleiten…“

Wenn Sie nun einwenden, diese Zeit haben Sie nicht immer: Es dauert in aller Regel auch nicht länger, als wenn Sie sich in einen ergebnislosen Diskurs einlassen, doch am Ende werden Sie sich auf jeden Fall besser fühlen als nach einem Streitgespräch.

Natürlich ist mir auch bewusst, dass nicht alle Menschen „mistkugelrollend“ auf Sie zukommen, manche einfach nur einen kurzen, bissigen Kommentar in Ihre Richtung schießen. Auch in diesem Fall helfen die Schritte samt Nachfrage von „Aus der Schusslinie gehen“. Darüber hinaus gibt es noch viele andere Strategien, ein paar davon (auch die oben vorgestellten) habe ich in meinem Büchlein „Freundlich, aber bestimmt“ (Springer-Verlag, 3. Auflage 2022) zusammengestellt, doch die besten Lehrmeister finden Sie immer noch jeden Tag um sich herum: Beobachten Sie Menschen, die souverän und gelassen reagieren und lernen Sie durch Beobachtung. Auf diese Weise haben Sie als Kind in kurzer Zeit mehr gelernt, als später in so kurzer Zeit in allen Schulen. Nutzen Sie diese Fähigkeit!

Viel Erfolg beim Ausprobieren!

Über den/die Autor/In

Alexander Seidl, geb. 1974, ist ON zertifizierter Organisationsberater und -trainer für das Gesundheitswesen, Lehrtrainer, Lehrcoach und systemischer Coach.

Seit 2000 begleitet er Organisationen und Menschen im Gesundheitswesen im Zuge von Veränderungsprozessen und gestaltet gemeinsam mit den Institutionen Prozesse auf eine Art, dass sie nicht nur effizient sind, sondern auch für alle beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so gut wie möglich passen. Im Bereich Schulung liegt sein Schwerpunkt auf herausfordernden Gesprächssituationen und dem Vermitteln von schwierigen Informationen im Bezug auf Patient*innen, im Team oder als Führungskraft

Gemeinsam mit Mag. Dr. Annelies Fitzgerald, DGKS, hat er 2003 die Firma health care communication gegründet, welche auf Schulungen, Beratungen und die Organisation von Kongressen und Veranstaltungen im Gesundheitswesen spezialisiert hat.

Neben wissenschaftlicher Forschung gemeinsam mit dem Karl Landsteiner Institut für Human Factors & Human Resources in den Bereichen Bereich Kommunikation, Interaktion, Zufriedenheitsfaktoren von Mitarbeiter*innen unterschiedlicher Berufsgruppen oder Bedürfnissen von Führungskräften ist er Autor bzw. Co-Autor von vier Büchern und über 30 Publikationen.

Kontaktdaten: Alexander Seidl, Health care communication – RED Management Trainings- und Beratungs GmbH Schönauer Straße 15

2542 Kottingbrunn www.healthcc.at