Übertherapie oder Sterben in Würde?

Ein Weg aus dem Machbarkeitswahn moderner Medizin

Moderne Medizin bewirkt sehr viel Gutes und hilft vielen Menschen durch die Phase einer schweren Erkrankung um sie in ein gutes Leben zurückzubringen. Moderne Medizin kann aber auch Leiden verlängern und Sterben hinauszögern, wenn sie nicht gezielt eingesetzt und dieser Einsatz regelmäßig auf seine Sinnhaftigkeit und den Nutzen für Patient*innen überprüft wird. Das kommt gerade auf Intensivstationen – aber auch in anderen Bereichen der Medizin (z.B. Tumortherapie etc…) häufig vor. Moderne Medizin im Machbarkeitswahn verhaftet, fügt betroffenen Patient*innen, aber auch allen anderen (Angehörigen, betreuenden Teams – Ärzt*innen wie Pflegekräften – und nicht zuletzt auch der Gesellschaft) großen Schaden zu und verursacht viel sinnloses Leiden. Wie man dieses Zuviel, die sog. Übertherapie und deren Folgen vermeiden kann, was man darf im Rahmen ärztlicher Entscheidungsfindung und wie man das Ziel eines guten Lebens am Ende des Lebens und ein Sterben in Würde erreichen kann, damit werden wir uns im Folgenden beschäftigen:

Übertherapie und chronisch kritische Erkrankung

Übertherapie bedeutet, dass wir Ärzt*innen medizinische Handlungen indizieren und durchführen, obwohl sie für Patient*innen in einer fortgeschrittenen Phase ihrer Erkrankung nicht mehr sinnvoll/nützlich sind – nur, weil sie technisch machbar sind. Elshaug definiert Übertherapie als Durchführung von Behandlungen, die sehr unwahrscheinlich weder Lebensqualität noch Quantität erhöhen, die mehr Schaden als Nutzen anrichten, oder denen Patient*innen, die über potentielle Benefits und Risiken voll informiert gewesen wären, nicht zugestimmt hätten (1). Übertherapie ist ein weltweit beobachtetes Phänomen in ‚reichen‘ Medizinsystemen. Die Arbeitsgruppe um Cardona-Morell hat sich das in einer großen, retrospektiven Studie mit über 1,2 Mio Patient*innen (USA, Europe/UK, Canada, Brazilien, Taiwan/Südkorea und Australien) angesehen. Fast 40% der in den letzten sechs Lebensmonaten durchgeführten Behandlungen waren nicht sinnvoll, sog. ’non- beneficial treatments’ (NBT). Darunter fand sich alles, was die moderne Medizin so bietet wie Reanimationen, Intensivaufenthalte, Nierenwäsche, Strahlentherapie, Transfusionen, Antibiotika, Herzkreislaufbehandlungen, Hormone, Verdauungsaktive Substanzen, Labortests. 33% der Patient*innen erhielten nicht- sinnvolle Chemotherapien sogar noch in den letzten 6 Lebenswochen (2).

Übertherapie schadet nicht nur Patient*innen, die chronisch kritisch krank werden, sondern auch Angehörigen, die nach langen Intensivaufenthalten Ihrer Familienmitglieder häufig ein posttraumatisches Stresssyndrom entwickeln (3). Bei uns Behandler*innen ist Übertherapie die häufigste Ursache für Burnout (4).

Das was medizinische Mitarbeiter*innen (Ärzt*innen wie Pflegekräfte gleichermaßen) am meisten belastet ist das Fortsetzen von auf Heilung ausgerichteten (oft belastenden) Behandlungen, wenn klar ist, dass keine Heilungsaussicht mehr besteht (5). Schlussendlich schadet Übertherapie auch der Gesellschaft, indem unter Verletzung des ethischen Prinzips der „Gerechtigkeit“ (soziale Gerechtigkeit / Verteilungsgerechtigkeit) erhebliche sinnlose Kosten im Gesundheitssystem entstehen, die dann anderswo nicht zur Verfügung stehen (6).

Chronisch kritische Erkrankung (CCI) als Folge von Übertherapie muss als negatives Ergebnis einer aufwendigen Intensivtherapie vermieden werden, da CCI eine ethisch nicht gebotene Verlängerung von Leiden und Hinauszögern von Sterben bedeutet. Dies würden sich die meisten Patient*innen, wenn sie gut aufgeklärt wären, nicht wünschen. Die Daten zeigen aber, dass CCI eine rasch wachsende Gruppe von Patient*innen betrifft (5 – 10%), die eine schwere Erkrankung oder große Operation zunächst überlebt haben, dann aber weiter unter einem anhaltenden Versagen ihrer Organe leiden, über Monate eine hochspezialisierte Versorgung auf einer Intensivstation benötigen, wochenlang maschinell beatmungspflichtig bleiben, wiederholte Infektionen haben, sehr schwach sind, unter Verwirrtheit leiden und immer wieder auf der Intensivstation aufgenommen werden müssen.

Über 50% der chronisch kritisch Kranken sterben innerhalb 1 Jahres, über 88 % verlassen das Krankenhaus nicht und bleiben schwere Pflegefälle (7,8). Die Kosten für diese sinnlosen medizinischen Maßnahmen (in der Ethik als sog. „Futility“ bezeichnet) sind oft astronomisch hoch und sind – abgesehen vom großen Leid für Patient*innen und deren Angehörige – dem ethischen Prinzip der Gerechtigkeit folgend (siehe oben), auch nicht geboten. Zudem fügen sie unserem Gesundheitssystem großen Schaden zu.

Es sei an dieser Stelle nochmals explizit darauf hingewiesen, dass in unserem Gesundheitssystem derzeit noch alle Menschen alles erhalten, was für sie medizinisch sinnvoll und nützlich ist – völlig ungeachtet ihres sozialen Status, ihrer Hautfarbe, ihrer vorhandenen oder nicht vorhanden Versicherung etc…. Um dieses System einer solidarischen Gesundheitsversorgung für alle Menschen, die in diesem Land leben, auch in der Zukunft aufrecht erhalten zu können, sind sinnlose medizinische Behandlungen – ganz abgesehen davon, dass sie für alle Beteiligten langes, sinnloses Leiden bedeuten – zu vermeiden und die ärztliche Entscheidung zu einer rechtzeitigen Therapiezieländerung von Heilung Richtung Palliation muss besser und vor allem rechtzeitig getroffen werden. Wenn wir also die Frage beantworten wollen, ob Übertherapie ein Sterben in Würde verhindert, dann können wir diese Frage auf jeden Fall mit „ja“ beantworten.

Es sei hier noch ein abschließender Gedanke erlaubt: Wenn wir Ärzt*innen uns die Entscheidungen über Sinn und Nützlichkeit einer Behandlung aus Angst vor Fehlentscheidungen aber auch aus Angst vor dem Vorwurf ‚nicht alles getan zu haben‘ aus der Hand nehmen lassen und uns weiterhin weitgehend nur am technisch Machbaren orientieren, dann kommt über die ausufernden Kosten und ein unleistbar gewordenes Medizinsystem über kurz oder lang der Rechenstift einer nach betriebswirtschaftlichen Kriterien gesteuerten Medizin – dann sind unmenschliche Fehlentscheidungen vorprogrammiert und eine individualisierte, auf den Menschen abgestimmte Medizin, so wie wir sie eigentlich betreiben wollen und sollten, ist dann nicht mehr möglich – der 2-Klassenmedizin ist dann Tür und Tor geöffnet, wo Menschen mit viel Geld sich Behandlungen leisten können, die anderen dann nicht mehr zur Verfügung stehen werden. In einem solchen System würde ich weder Ärzt*in/Pflegeperson noch Patient*in sein wollen.

Entscheidung zur Therapiezieländerung (TZÄ) – ethische und rechtliche Kriterien

Um Übertherapie und deren Folgen für Patient*in, Angehörige, Pflegepersonen, und das Gesundheitssystem zu vermeiden, müssen Ärzt*innen rechtzeitig die Entscheidung zur Therapiezieländerung von Heilung Richtung Palliativmedizin (PM) treffen (9). Schwierige Entscheidungsfindung in der Medizin muss sich unter anderem an den 4 ethischen Prinzipien des Georgetown-Mantras orientieren (6): Patient*innen-Wille (Autonomie), Nutzen für Patient*in (Wohltun; Benefizienz) und/oder möglicher Schaden (Malefizienz) einer technisch machbaren Therapie (gutes Beispiel ist hier z.B. eine Chemotherapie) sowie die bereits oben besprochene Gerechtigkeit (Justice). Auch die Verhältnismäßigkeit einer technisch machbaren medizinischen Handlung muss abgewogen werden. Die ärztliche Entscheidung zur Änderung des primären Therapieziels der Heilung Richtung Palliativmedizin muss sich an der Outcomewahrscheinlichkeit orientieren. Das ist die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, ob Patient*in sich erholen, die gewünschte Lebensqualität erreichen (Rehabilitationspotential) kann oder mit hoher Wahrscheinlichkeit versterben wird (Mortalitätswahrscheinlichkeit).

D.h. Ärzt*in muss beurteilen, ob und für welche der technisch machbaren Behandlungen es eine Indikation und ein Therapieziel gibt. Es kommt dabei immer wieder auf ärztlicher Seite Unsicherheit auf, ob man eine technisch machbare Handlung unterlassen darf. Es sei hier nochmals betont, dass die Indikation für eine medizinische Behandlung nicht allein von der Machbarkeit, sondern auch vom Nutzen für Patient*in abhängt. Gibt es primär keinen Nutzen für eine technisch mögliche Behandlung, oder fällt der Nutzen sekundär weg, weil Patient*in sich schlechter entwickelt als erwartet, dann darf eine medizinische Behandlung nicht begonnen werden, bzw. muss eine begonnene Behandlung wieder abgebrochen werden. Auch bei schnellem Todeseintritt hat dies – wie immer wieder fälschlicherweise befürchtet – nichts mit aktiver Tötung/Euthanasie zu tun, da die Absicht hinter der aktiven Euthanasie das aktive Herbeiführen des Todes einer Person wäre, während bei der Therapiezieländerung die Absicht das Sterben zulassen durch Weglassen nutzloser, technisch möglicher medizinischer Handlungen ist, die das Leben und damit Leiden künstlich verlängern und den Sterbeprozess hinauszögern würden, was ethisch nicht geboten ist.

Ergänzend soll hier noch kurz auf die rechtliche Seite der Therapiezieländerung eingegangen werden: Ärzt*in ist nicht zur Heilung verpflichtet. Handlungsmaxime aus dem seit 1949 gültigen Ärztegesetz § 49-1 gibt vor, dass „ÄrztIn verpflichtet ist nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung das Wohl der Kranken und den Schutz der Gesunden zu wahren“ (10). Es gibt also keine rechtliche Vorschrift mit allen Mitteln heilen oder das Leben erhalten zu müssen.

Zum Wohle der Kranken handeln kann neben Heilen auch heißen Sterben zuzulassen und den sterbenden Menschen palliativmedizinisch unter bestmöglicher Symptomkontrolle zu begleiten. Obwohl dies in Österreich rechtlich immer schon so war, wurde zur rechtlichen Absicherung palliativmedizinischer Maßnahmen im neuen Ärztegesetz 2019 noch der Absatz ergänzt, dass „palliativmedizinische Maßnahmen auch dann zulässig sind, wenn ihr Nutzen der Symptomlinderung das mögliche Risiko einer Beschleunigung des Verlusts vitaler Lebensfunktionen überwiegt“. Das bedeutet, wenn zur Symptomkontrolle (z.B. Atemnot, Schmerzen etc…) eine Steigerung von Medikamenten notwendig ist, die sich verkürzend auf die Lebenszeit auswirken könnten (schlechter schlucken, weniger tief atmen, schlechter husten etc…), dann ist dies im Sinne der Leidensminderung im Sterbeprozess (Comfort Terminal Care; CTC) explizit erlaubt. Jegliche Form der Therapiezieländerung muss gleich wie jede andere ärztliche Anordnung in der Patient*innenakte vorgeschrieben sein und zeitnahe dokumentiert werden.

Ärztliche Entscheidungsfindung und Outcome-relevante Faktoren im Rahmen einer Therapiezieländerung

Ärzt*innen müssen sich täglich kritisch fragen, ob Patient*in noch von der laufenden Therapie profitiert bzw. ob eine technisch machbare Therapie wirklich begonnen werden sollte oder ob Patient*in auf Grund der weit fortgeschrittenen Erkrankung unter Umständen von einem rechtzeitigen Umstieg auf Palliativmedizin mehr profitieren würde. Im Rahmen palliativmedizinischer Behandlung geht es um Wohltun und das gute Leben am Ende des Lebens, wo nebenwirkungsreiche, auf Heilung ausgerichtete Therapien weggelassen werden um palliative Behandlung mit all ihren unterschiedlichen Facetten in den Vordergrund medizinischer Bemühungen zu stellen.

Ziel ist den letzten Weg eines Menschen – wie auch immer lange er dauern wird – zu begleiten und schlussendlich ein Sterben in Würde unter bestmöglicher Symptomkontrolle (ohne Angst, Stress, Schmerzen, Atemnot und nicht alleine) zu ermöglichen. Palliativmedizin beginnt mit dem Beginn einer schweren Erkrankung und sollte von Anfang an im Behandlungskonzept einen Platz finden.

Wie beim Ärztegesetz besprochen, darf und MUSS Ärzt*in basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen nach Maßgabe ihrer Erfahrung die Outcome- Wahrscheinlichkeiten einer Patient*in abschätzen um ein Therapieziel/TZÄ festzulegen und die Indikation für mögliche medizinische Behandlungen abzuwägen. Hilfreich bei der Identifizierung von Hochrisikopatient*innen, die unter Umständen ein schlechtes Outcome und mehr von einem rechtzeitigen Umstieg auf palliativmedizinische Maßnahmen profitieren würden, können Scores sein. Für die rasche Evaluierung eigenen sich besonders sehr einfach durchzuführende Scores wie der alte ADL-Score (11) und die Dalhousie Frailty Scale (12-17). Beide Scores sind, wenn sie schlecht ausfallen, im Falle von schwerer Erkrankung oder bei aufwendiger Behandlung (Chemotherapie, großer operativer Eingriff, etc…) mit erhöhter Sterblichkeit und schlechtem Rehabilitationspotential verknüpft. Bei Scores im Hochrisikobereich sollte dann eine Besprechung im Team aller Behandler*innen über den weiteren Behandlungsweg der Patient*in initiiert werden. Diese interdisziplinäre Besprechung wurde als Konzept ‚Klinische Perspektivenkonferenz‘ (KPK) erstmals von der ARGE Ethik der ÖGARI am AIC 2019 vorgestellt. Es muss im Team aller Behandler*innen eine Therapieentscheidung getroffen werden, ob man die geplante Behandlung überhaupt macht oder sofort palliativmedizinische Maßnahmen einleitet. Falls man sich zur Behandlung entschließt, muss der Behandlungsweg besprochen sein, was man im Falle von Komplikationen macht (auf die Intensivstation?, invasive Herzkreislauftherapie?, Nierenwäsche?, Herzlungenmaschine?, etc…). Darüber muss Patient*in oder Stellvertreter*in und – falls gewünscht – auch die Angehörigen genauestens aufgeklärt werden mit dem Ziel einen informed consent zu erreichen, so dass der Patient*innenwille mit der ärztlichen Handlungsstrategie in Einklang gebracht wird. Falls Zeit ist sollte Patient*in vor dem bevorstehenden Ereignis eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht errichten. Wenn das aufgrund der Dringlichkeit des Eingriffs nicht mehr möglich ist, muss Patient*in wenigstens eine Vertrauensperson ( gewählte Vertretung im Sinne des neuen Erwachsenenschutzgesetzes;ErwSchG) benennen (18), die im Falle eines komplikationsreichen Verlaufes den mutmaßlichen Willen der Patient*in ins ärztliche Entscheidungsgespräch einbringen kann, falls Patient*in nicht mehr für sich selbst sprechen kann.

Die KPK ist also eine Möglichkeit ärztliche Entscheidungsfindung insofern leichter zu machen als der Patient*innenwillen bekannt ist und damit Basis für eine Entscheidung im Team aller Behandler*Innen sein kann mit dem Ziel Patient*innen ein gutes Leben am Ende des Lebens durch rechtzeitigen Umstieg auf palliativmedizinische Maßnahmen durch eine rechtzeitige Therapiezieländerung zu ermöglichen und letztendlich sinnlose Übertherapie und ihre negativen Folgen für Patient*innen und uns alle – inklusive des Gesundheitssystems – zu vermeiden.

Zusammenfassung

Wenn Sie sich über das „Leben und Treiben“ auf einer Intensivstation informieren wollen, gibt es dazu unter anderem eine sehr gute Möglichkeit über die Homepage von SELPERS www.selpers.com (Betreuung auf der Intensivstation – selpers). Zitat aus der Intensiv-Passage auf der SELPERS-Homepage: „Ob unvorhergesehen oder geplant ein Aufenthalt auf der Intensivstation ist eine außergewöhnliche Situation. Es ist völlig normal, dass in dieser Situation viele Fragen aufkommen. Ihr Behandlungsteam beantwortet Ihnen diese gerne. Damit Sie sich zusätzlich in Ruhe informieren können, geben in dieser Online-Schulung zwei langjährige Mitglieder eines Intensivteams Antworten auf häufige Fragen. Wieso muss ich oder mein/e Angehörige auf der Intensivstation betreut werden? Wie läuft die Behandlung ab? Wozu dienen die blinkenden und piepsenden Geräte? Wie kann ich mich auf einen Aufenthalt oder den Besuch vorbereiten? Und was erwartet mich dort? Auch wenn jede Intensivstation etwas anders ist, erhalten Sie in dieser Online-Schulung einen Überblick über die wichtigsten Abläufe und Behandlungen der Intensivmedizin. Sie finden nützliche Informationen und Tipps zur Vorbereitung und für Ihren Aufenthalt auf der Intensivstation. Angehörige erfahren, wie sie ihre Nahestehenden auf der Intensivstation unterstützen und gleichzeitig gut mit der herausfordernden Situation umgehen können. Diese Informationen sollen Ihnen dabei helfen, diese Zeit möglichst gut zu bewältigen…“.

DGKP Michael Urschitz und ich versuchen Ihnen hier die Welt der Intensivstation näher zu bringen und wir sprechen unter anderem auch offen darüber, was ein „gutes Leben am Ende des Lebens“ bedeutet, warum man trotz Intensivmedizin sterben kann und „Sterben zulassen“ eine der wichtigen ärztlichen Entscheidungen im Team aller Behandler*innen ist, um Leiden nicht sinnlos zu verlängern und Sterben nicht hinauszuzögern. Intensivmedizin trifft auf Palliativmedizin, weil die Betreuung am Ende des Lebens mit dem Ziel eines „Sterbens in Würde“ unter „guter Symptomkontrolle“ (ohne Angst, Stress, Schmerzen, Atemnot und nicht alleine) gerade auch auf einer Intensivstation unter Einbeziehung der Angehörigen sehr gut möglich ist. Es muss in der Medizin, wenn Heilung nicht mehr möglich ist, der Fokus auf das „gute Leben am Ende des Lebens“ gelegt werden.

Die meisten von uns wünschen sich am Ende des Lebens keine Verlängerung des Leidens und wir alle müssen wieder einsehen, dass Sterben trotz den schier unendlichen Möglichkeiten moderner Medizin ein unausweichlicher Teil des Lebens bleibt. Jeder einzelne Mensch trägt selbst die Verantwortung für die Gestaltung des Endes seines/ihres Lebens. Jeder einzelne Mensch könnte dies unter Wahrnehmung seiner/ihrer im neuen Erwachsenenschutzgesetz definierten Rechte aktiv in die Hand nehmen und rechtzeitig eine Patient*innenverfügung errichten. Dort werden Wünsche und Wertvorstellungen definiert und es können medizinische Behandlungen, die nicht mehr gewünscht sind, ganz oder teilweise abgelehnt werden. Wir empfehlen die gleichzeitige Errichtung einer Vorsorgevollmacht, in der festgelegt ist, wer für Patient*in sprechen und den mutmaßlichen Patient*innenwillen in die ärztliche Entscheidungsfindung einbringen soll, wenn Patient*in nicht mehr für sich selbst sprechen kann – wie das oftmals schnell auch für jüngere und/oder gesunde Menschen z.B. im Rahmen eines schweren Unfalls, plötzlicher schwerer Erkrankung oder auf einer Intensivstation der Fall sein kann. Das seit Sommer 2018 gültige neue Erwachsenenschutzgesetz räumt Menschen großzügig dieses Recht auf Selbstbestimmung im Rahmen medizinischer Behandlungen ein. Allerdings müssen Patient*innen An-, oder Zugehörige als Stellvertreter*innen offiziell autorisieren. Wir als betreuende ärztliche und pflegerische Teams können der Selbstbestimmung nur dann Platz einräumen, wenn Menschen diese damit verbundene Verpflichtung auch wahrnehmen und sich über ihr Lebensende rechtzeitig Gedanken machen.

Nur so können Ärzt*innen die Autonomie von Patient*innen wahren und schwierige medizinische Entscheidungen am Lebensende im Sinne der Patient*innen treffen, weil sie dann besser deren Wünsche und Wertvorstellungen kennen und weil Patient*innen selbst eine Person aus dem Kreis der sie umgebenden Menschen benannt haben, die den mutmaßlichen Willen in die Diskussion rund um die therapeutischen Möglichkeiten einbringt, wenn diese dazu nicht mehr selbst in der Lage sind. Nur so können Übertherapie und deren Folge, die chronisch kritische Erkrankung, mit all ihren negativen Folgen besser vermieden und ein „Sterben in Würde“ – auch auf unseren Intensivstationen – möglich gemacht werden – etwas, das sich die meisten Menschen wünschen, wann auch immer sie am Ende ihres Lebens angekommen sind.

Quellenverzeichnis

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  10. § 49 ÄrzteG: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Bundesnormen/NOR40211904/NOR40211904.htmlhttps://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Bundesnormen/NOR40190742/NOR40190742.html
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  • Das neue Erwachsenenschutzrecht im Überblick (justiz.gv.at)justiz_erwschg_download.pdf

Über den/die Autor/In

Barbara Friesenecker ist Anästhesistin, Intensivmedizinerin, Palliativmedizinerin und seit 2001 Oberärztin/stellvertretende Leiterin der Allgemein Chirurgischen Intensivstation der Universitätsklinik für Anästhesie und Intensivmedizin der Medizinischen Universität Innsbruck. Sie ist Mitglied/Vorsitzende in der ARGE Ethik in Anästhesie und Intensivmedizin der ÖGARI (österr. Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin) und seit 2019 Mitglied der „österr. Plattform für Ethikberatung im Gesundheitswesen“.

Neben dem Mitwirken in diversen Arbeitsgruppen und Gremien hat sie auch zusätzlich zu ihrer Forschungs- und Vortragstätigkeit, zur Etablierung eines Ethik-Pflichtcurriculums für Medizin- Student*innen an der Medizinischen Universität Innsbruck beigetragen.