Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum

Innovative Versorgungsmodelle und digitale Gesundheit sind die Zukunft

Die Herausforderungen der letzten Jahre eine angemessene, ausreichende und umfassende medizinische Versorgung und Betreuung im ländlichen Raum flächendeckend aufrecht zu erhalten, werden immer größer. Die aktuellen Diskussionen drehen sich meist darum, dass die bestehenden Versorgungsmodelle, die noch immer fast ausschließlich aus Einzelordinationen für Allgemeinmedizin bestehen, weiterbetrieben werden sollten. Es wird damit argumentiert, dass besondere Akzente auf eine Erneuerung oder auch Wiederbelebung dieser eingeschränkten Versorgungsformen gelegt werden soll.

Einzelordinationen

Die seit Jahrzehnten bestehenden Einzelordinationen für Allgemeinmedizin haben durchaus Lob und Anerkennung verdient und sind durchwegs von sehr engagierten ÄrztInnen betrieben worden. In der Zwischenzeit, verstärkt durch die Herausforderungen der Pandemiebekämpfung, hat aber ein rascher gesellschaftlicher Wandel eingesetzt, der es sehr zweifelhaft macht, ob diese Versorgungsmodelle noch zukunftsfähig sind. Zunehmend wird die Frage gestellt, ob damit noch die Bedürfnisse der PatientInnen, als auch der neuen Generation der ÄrztInnen auch nur annähernd erfüllt werden können. Dazu kommt, dass viele Patienten der jüngeren Generationen keinen eigentlichen Hausarzt mehr wollen; sie wollen schlicht eine rasche, qualitative und umfassende Versorgung durch welche Gesundheitsdienstleister auch immer. Es ist daher nicht mehr ausreichend, diesen neuen Anforderungen, Bedürfnisse und Fragestellungen mit alten Antworten zu begegnen!

Bei einer näheren Betrachtung zeigt sich, dass das bisher durchaus ausreichende Modell der Kassenvertragsärzte, die in einer Einzelordination solche Betreuungsleistungen geleistet haben, zunehmend an Leistungsgrenzen stößt und zunehmend Risse und Lücken bekommt.

Die junge Generation der ÄrztInnen ist nicht mehr bereit in diese veralteten Strukturen einzutreten

Noch vor wenigen Jahren hat es bei nahezu jeder zu besetzenden Kassenvertragsstelle mehrere Bewerber gegeben und eine Besetzung, sowie eine Auswahl unter Bewerbern war kein Problem. Heutzutage gibt es bereits viele Kassenplanstellen, die jahrelang nicht besetzt werden können. Dieser Trend wird sich noch massiv verstärken, wenn in den nächsten Jahren 60% bis 70% der Kassenvertragsärzte in Pension gehen. Die junge Generation der ÄrztInnen ist nicht mehr bereit in diese veralteten Strukturen einzutreten, da sie gewohnt sind, im Team zu arbeiten, multiprofessionell tätig zu sein und ein Höchstmaß an „work life balance“ und flexible Arbeitszeitmodelle verlangen. Diese Anforderungen sind aber nur dann zu erreichen, wenn Versorgungsmodelle mit einer gegliederten, flexiblen Organisationsform vorhanden sind.

Da nützt es auch nichts, wenn die betroffenen Bürgermeister versuchen, für ihre Gemeindebürger in einen Wettstreit zu treten und immer neue Anreize für Kassenplanstellenbewerber zu erfinden. Selbst „vergoldete“ Ordinationen sind heutzutage kein ausreichender Anreiz mehr, damit die junge Generation der ÄrztInnen in diese alten Versorgungsmodelle einsteigt.

Hiezu kommt, dass durch diese sich immer weiter verstärkenden Defizite und Lücken nicht nur die allgemeinmedizinische Grundversorgungsleistung leidet, sondern auch die weiteren, aufbauenden Gesundheitsleistungen, wie die Leistungserbringung in den Krankenanstalten. Wenn das Fundament der Gesundheitsversorgung und das ist die Primärversorgung, zunehmend wegbricht, dann können diese Gesundheitsdienstleistungen nicht durch die darauf aufbauenden Leistungen der Krankenanstalten ersetzt werden.

PatientInnen stellen immer häufiger die Frage, was denn ihre Gegenleistung für die Sozialversicherungsabgaben ist, die sie leisten müssen. Zunehmend müssen sie in Wahlarztordinationen ausweichen und zusätzlich in die eigene Tasche greifen, um die Wahlarzthonorare begleichen zu können.

Neue und innovative Primärversorgungszentren

Neue und innovative Primärversorgungszentren, wie etwa das PVZ in Enns1 sind wertvolle Versorgungsformen der Zukunft, die den Anforderungen gerecht werden und sowohl die Bedürfnisse der PatientInnen als auch der ÄrztInnen und der weiteren Gesundheitsberufe vollständig erfüllen können.

Ja, es ist richtig, dass dann weitere Wegstrecken in Kauf genommen werden müssen. Aber was hat man vom Hausarzt ums Eck, wenn seine Ordinationszeiten bloß 20 Stunden betragen und keine umfassende Gesundheitsversorgung angeboten werden kann. Der Hausarzt ums Eck, der 7 Tage die Woche, rund um die Uhr für alle PatientInnen zur Verfügung steht, ist ein Mythos, der sich zwar hartnäckig hält, aber keinem Faktencheck standhält. Die Realität am Land ist so, dass bestehende Kassenordinationen nur für ganz kleine Teile der Landbevölkerung wirklich zu Fuß erreichbar sind. Für den weitaus größten Bevölkerungsanteil müssen Menschen mit Mobilitätsproblemen auch jetzt schon etwa von Verwandten mit dem Auto geführt werden.

Ein wichtiges Element einer neuen Primärversorgung, als erste Anlaufstelle für alle Gesundheitsprobleme ist, dass nicht nur die eigentlichen ärztlichen Gesundheitsdienstleistungen, sondern auch die Gesundheitsdienstleistungen von anderen Gesundheitsberufen in Kooperation und Abstimmung angeboten werden. Egal ob Pflege, Physiotherapie oder auch Sozialarbeit, die Gesundheitsprobleme können im Gesamtkontext gesehen, erkannt und mit der fachlichen Kompetenz von verschiedenen Berufsgruppen betreut werden. Dieser umfassende Ansatz erspart den betroffenen Patienten viele Wege, viel Zeitaufwand und bringt ein wesentlich besseres Behandlungsergebnis, als wenn die Probleme isoliert als Einzellösungen von verschiedenen Berufsgruppen erledigt werden. Die gesamthafte Betreuung der Patienten durch Primärversorgungszentren bedeutet, dass nicht nur einzelne Solisten versuchen ein gutes Ergebnis zu erzielen, sondern dass die Solisten als Teil eines Orchesters  zusammenarbeiten  und  für  das  beste  Ergebnis  sorgen. Da kommt es dann nicht mehr darauf an, ob eine Wegstrecke von zB 800 m zu bewältigen ist, oder ob man 10 km zum nächsten PVZ mit langen Öffnungszeiten und umfassender Versorgung fährt.

Es zahlt sich auch aus einen Blick über die eigenen Horizonte zu werfen und ein regionales Versorgungsprojekt im ländlichen Baden-Würtemberg in Betracht zu ziehen, um diese Erfahrungen nach Österreich mitzunehmen. Dort zeigt sich, dass ein umfassender regionaler Ansatz, mit einer starken Betonung der Primärversorgung, die Bezeichnung lautet „Gesundes Kinzigtal2“, die Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung bestens abdeckt. Die Patientenzufriedenheit ist bei nahezu 100% und die Bevölkerungsgesundheit ist stark im Steigen. Die Gesundheitsberufe, insbesonders die ärztlichen Gesundheitsberufe, drängen in diese Region und es gibt keine Nachwuchs- bzw. Rekrutierungsprobleme. Dazu kommt, dass die ökonomische Evaluierung mit den bestehenden Standardmodellen zeigt, dass diese regionale Versorgungsform günstiger ist, als die traditionellen Versorgungsmodelle.

Ein grundsätzlicher Schwerpunkt in Baden-Würtemberg liegt auf der Prävention und auf dem richtigen Einsatz von digitalen Technologien („digitale Gesundheit“). Gerade bei den Einstellungen zu digitalen Dienstleistungen und das ist eine gute Ausgangslage für neue Versorgungsmodelle, hat es auch in Österreich eine rasche Neuorientierung der Bevölkerung gegeben. Die Einstellungen und Wertehaltungen der österr. Bevölkerung zu digitaler Gesundheit und e-health Anwendungen waren vor den Erfahrungen mit der Corona-Pandemie von vorsichtiger Zurückhaltung geprägt.

Seit Corona grundlegender Kultur/Wertewandel

Seit Corona hat sich ein grundlegender und radikaler Kultur/Wertewandel vollzogen und die Grundeinstellung zu den verschiedenen digitalen Werkzeugen hat sich zu einer sehr positiven Grundhaltung geändert. Dies hat freilich Gründe, die nicht nur darin liegen, dass die Vorteile von e-health Anwendungen plötzlich erkannt worden sind. Vielmehr hat sich diese geänderte Haltung aus zwingenden Gründen der Pandemiebekämpfung ergeben, wie etwa „social distancing“, hygienische Standards, Abstandhalten, und ähnliche Vorgaben der Pandemiebekämpfung.

Diese neu positive Haltung wird in einer repräsentativen Gallup3 Umfrage evident. Auf die Fragestellung: „Es sollte wissenschaftlich untersucht werden, welche bereits vorhandenen Medikamente und Behandlungen eventuell auch zur Bekämpfung der Covid 19 Erkrankungen erfolgreich eingesetzt werden könnten?“ Antworten im Durschnitt 97% mit ja, bei den über 60 Jährigen, sogar 99% mit ja.

Die Fragestellung: „Für die Forschung zur Bekämpfung des Coronavirus an Österreichischen Medizinischen Universitäten und anderen fachlich einschlägigen Universitätsinstituten sollten alle in Österreich vorhanden Quellen von Gesundheitsdaten unter strikter Einhaltung der gesetzlichen Regelungen miteinander verknüpft werden dürfen?“ Gibt es ähnliche hohe Zustimmungswerte von 91% der Befragten, die über 60 Jährigen mit 94%.

Dieser hohe Zustimmungswert zur Verknüpfung von Gesundheitsdaten ist besonders bemerkenswert und zeigt sich ebenso bei der Fragestellung: „Zur Bekämpfung von COVID-19 (Coronavirus) sollten die e-Medikationsdaten (Informationen über verschriebene und abgegebene Medikamente in ELGA) der ÖsterreicherInnen für Forschungszwecke durch Medizinische Universitäten in Österreich verwendet werden dürfen.“ Hier gibt es Zustimmungswerte von 84% im Durchschnitt und 88% bei den über 60 Jährigen.

Das sind Zustimmungswerte, die nicht nur eine Möglichkeit für die Gesundheitspolitik aufzeigen, sondern der Gesundheitspolitik einen klaren Auftrag geben in dieser Richtung rasch und umfassend vorzugehen.

Eine   vollkommen   andere,   aktuelle   Umfrage   der   Vinzenz   Gruppe, „Patientenbedürfnisse, die Wünsche der Patienten“, von IFES4 durchgeführt, zeigt die gleichen positiven Einstellungen der Patienten zu diesen neuen digitalen Anwendungen.

Die Bevölkerung und die Patienten fordern daher, umfassende neue Versorgungsmodelle, unterstützt durch den Einsatz von digitalen Technologien, um einerseits die individuelle Behandlung verbessern zu können, die Versorgungssituation insgesamt zu optimieren und um andererseits den wissenschaftlichen Fortschritt in der bestmöglichen Behandlung gesamter Bevölkerungsgruppen bestmöglich zu unterstützen.

Neue innovative Primärversorgungsmodelle mit Primärversorgungszentren, eingebettet in regionale Versorgungsmodelle und verstärkt durch die Anwendungen der digitalen Gesundheit können und werden bestehende Versorgungsprobleme im ländlichen Bereich lösen. Dazu braucht es den Mut, neue Wege zu beschreiten und es braucht den Mut diese neuen Modelle besonders zu fördern und zu unterstützen.

 

1 GHZ Enns (ghz-enns.at)

2 www.optimedis.de

3 AKZEPTANZ DER VERWENDUNG VON GESUNDHEITSDATEN IN DER FORSCHUNG ZUR BEKÄMPFUNG VON COVID-19; März/April 2020

4 Patientenbedürfnisse/Wünsche der Patienten, IFES, November 2020