PAN PAN!
Die Idylle des „besten Gesundheitssystems der Welt“ ist entzaubert. Warum es nun mutiges Handeln anstatt Hysterie braucht.
Vor allem die „Hobby Kapitäne zur See“ unter Ihnen kennen die Situation vielleicht: Gerade ankert man mit dem Boot in einer sonnigen Bucht, als die entspannte Idylle von einem plötzlichen „PAN PAN!“ unterbrochen wird, das in dreifacher Wiederholung aus dem Lautsprecher des Funkgerätes dröhnt. Diese Dringlichkeitsmeldung wird im Sprechfunkverkehr dann abgesetzt, wenn eine konkrete Gefährdung für Schiff oder Besatzung vorliegt, etwa aufgrund einer Manövrierunfähigkeit. Wie passend: Wäre das Gesundheitssystem ein Schiff, es würde wohl „PAN PAN!“ funken.
Aktuelle Lage des österreichischen Gesundheitswesens alles andere als heiter
Rühmte man sich vor kurzem noch, das beste Gesundheitssystem der Welt zu haben (was im Übrigen auch damals so nicht stimmte), ist die aktuelle Lage des österreichischen Gesundheitswesens unbestritten alles andere als heiter: Personalknappheit, mäßiges Outcome hinsichtlich gesunder Lebensjahre bei vergleichbar hohem Mittelauwand[1], fehlende Patientensteuerung und beschränkte Finanzmittel sind nur einige der großen dunklen Wolken am Himmel. Das wahre Gewitter zieht aber gerade erst auf: Aufgrund der demographischen Entwicklung werden immer mehr Menschen Gesundheitsdienstleistungen verschiedener Art benötigen. Mit höherem Lebensalter steigt auch die Anzahl der chronischen Erkrankungen[2], was bedeutet: immer mehr (teils mehrfach chronisch kranke) Menschen müssen das Gesundheitssystem (öfter) in Anspruch nehmen. Daneben entstehen neue Krankheitsbilder wie beispielsweise Long Covid. Neue Behandlungsmethoden im Höchstpreissegment sprengen indes die finanziellen Möglichkeiten der Sozialversicherung. Dass nicht nur das Gesundheitssystem schlecht auf diese Entwicklung vorbereitet ist, sondern auch die Bevölkerung selbst in Teilen eine unzureichende Gesundheitskompetenz aufweist, macht die Situation nicht besser.[3]
Jedes dieser Probleme ist für sich alleine schon eine Herausforderung. Gerade beim Blick auf das Verhältnis zwischen Finanzmitteleinsatz und dem Ergebnis (gesunde Lebensjahre) wird klar: mehr Geld alleine wird die Lösung des Problems nicht sein. Nichtsdestoweniger wird sich unsere Gesellschaft fragen müssen, wie viel Geld des gemeinsam Erwirtschafteten für Gesundheit ausgegeben werden soll, was auch bedeutet, dass es an anderen Stellen des öffentlichen Haushaltes nicht mehr zur Verfügung steht. Es bleibt zu hoffen, dass diese Debatte offen und ehrlich geführt werden wird.
Strukturen des Gesundheitswesens und dessen Kompetenz- und Finanzierungswirrwarr
Der große Reformdruck besteht jedoch vorrangig in den Strukturen des Gesundheitswesens und dessen Kompetenz- und Finanzierungswirrwarr. Dieser behindert gegenwärtig eine wirksame Patientensteuerung ebenso wie eine zielgerichtete Präventionsstrategie, zu der auch eine Verbesserung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung gehört. Die „Zielsteuerung‘“ soll diesen Problemen entgegenwirken. Ob das reicht, wird sich zeigen. Zu langsam schreitet jedenfalls der Ausbau der Primärversorgung voran, die aber bei der – ebenso dringend notwendigen – Reform der Spitalsstruktur eine grundlegende, wichtige Rolle spielt. Ebenso braucht es eine kritische Auseinandersetzung mit den Gesundheitsberufen: wer kann am besten für den erkrankten bzw. pflegebedürftigen Menschen wirksam werden? Wie wird dabei ein patientenorientiertes Miteinander sichergestellt und wie können Anwendungen aus dem Bereich digital Healthcare bzw. der Telemedizin dabei unterstützen?
Gebietskörperschaften, Sozialversicherungsträger und Vertretungen der Gesundheitsberufe (allen voran Ärztinnen und Ärzte) sind sich zumindest im Groben darüber einig, dass es grundlegende Reformen braucht. Dabei dürfen gerade sie nicht vergessen, dass die aktuelle Situation nicht zuletzt auch durch die jahrzehntelange beharrliche Verfolgung ihrer eigenen Interessen teilweise mitverursacht wurde. Wiederholt wurde die „Patientenorientierung“ als Feigenblatt für beinharte Standes- und Standortpolitik missbraucht. Es braucht nun mutige Entscheider an allen Stellen und auf allen Ebenen, die Willens sind, unser solidarisches Gesundheitssystem für die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte wieder fit zu machen. Die Gewitterwolken am Himmel werden deshalb nicht verschwinden, jedoch wollen wir gut durch den Sturm kommen. Mit guter Vorbereitung ist das schaffbar.
Tausende Menschen arbeiten in den verschieden Gesundheitsberufen mit großem Engagement und hoher fachlicher Expertise
Denn noch immer gilt: Im internationalen Vergleich steht dem österreichischen Gesundheitswesen eine stattliche Summe an Finanzmitteln zu Verfügung. Noch nie wurde für den Gesundheitsbereich so viel Geld ausgegeben als 2023; dabei bleibt das Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Finanzierung etwa gleich.[4] Tausende Menschen arbeiten in den verschieden Gesundheitsberufen mit großem Engagement und hoher fachlicher Expertise zum Wohle der Patientinnen und Patienten. Das sind keine schlechten Voraussetzungen!
Nun aber dröhnt der Dringlichkeitsruf aus den Lautsprechern. Es gilt zu handeln! Es sind die berechtigten Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt zu rücken und eine Reform des Gesundheitswesens aus diesem Fokus heraus zu gestalten. In der Patientencharta heißt es: „Die Vertragsparteien verpflichten sich, die zweckmäßigen und angemessenen Leistungen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens für alle Patienten und Patientinnen ohne Unterschied des Alters, des Geschlechts, der Herkunft, des Vermögens, des Religionsbekenntnisses, der Art und Ursache der Erkrankung oder Ähnliches rechtzeitig sicherzustellen.“[5] Lasst dies unseren Leuchtturm sein, an dem wir uns Handeln orientieren.
In der Panik läuft man Gefahr, Rettungsringe aus Beton zu kaufen.
PAN PAN Rufe sind durchaus gerechtfertigt. Die Lage ist ernst. Aber: In einer (bevorstehenden) Krise sind Angst und Panik die schlechtesten Ratgeber. Das ist ein Aufruf an uns alle: in der Krise halte dich fern von jenen, die Hysterie verbreiten. In der Panik läuft man Gefahr, Rettungsringe aus Beton zu kaufen.
So emotional das Thema der Gesundheitsversorgung verständlicherweise ist, umso mehr braucht es eine sachliche Herangehensweise, offene und ehrliche Kommunikation, die Bereitschaft über den Tellerrand hinauszusehen und den Mut, die eigenen Interessen dem gemeinsamen Ziel einer funktionierenden Gesundheitsversorgung im Sinne der Patientencharta unterzuordnen.
Für ein „MAY DAY“ ist es noch zu früh. Handeln wir jetzt, handeln wir mutig und vor allem: handeln wir patientenorientiert! Dann sind wir gut vorbereitet, für die nahenden Gewitter, deren Donnergrollen längst nicht mehr zu überhören ist.
[1] EU-Mittelfeld bei gesunden Lebensjahren aber dritt-teuerstes Gesundheitssystem in der EU (Quelle: Eurostat, Anzahl der gesunden Lebensjahre im Alter von 65, 2022 / Gesundheitsausgaben nach BIP, 2022)
[2] Barnett et al., Epidemiology of multimorbidity and implications for health care, research, and medical education: a cross-sectional study, 2012.
[3] Griebler et al. Gesundheitskompetenz-Messung der ÖPGK (2021): Gesundheitskompetenz in Österreich, Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Wien.
[4] Quelle: Statistik Austria, Pressemitteilung 13.354-120/2.
[5] Art. 4 Abs. 1 der Patientencharta, BGBl. I Nr. 36/2002.